Der Anruf, der sein Leben verändert, kommt am 13. Januar 1995, aber Adam Paluch ist noch nicht daheim. Sein Sohn erzählt ihm später, da habe eine Verrückte angerufen, die behauptet, sie sei seine Schwester. „Bis dahin wusste Adam gar nicht, dass er überhaupt eine Schwester hatte“, so Jan Tenhaven. Der Filmemacher erzählt in seiner berührenden, vielschichtigen Doku „Adam & Ida“ (Montag, 26. September, 23.35 Uhr im Ersten) vom Suchen und Finden der Zwillinge, die sich nach mehr als einem halben Jahrhundert Trennung wieder in die Arme schließen.
Darum geht’s in „Adam & Ida“
Rückblick: Am 3. Mai 1939 werden Adam und Ida Paluch in Sosnowiec geboren. Im selben Jahr überfällt Hitler-Deutschland ihre Heimat Polen. Die Nazis treiben die jüdische Bevölkerung von Sosnowiec in ein Getto, auch Ester Paluch und ihre drei Kinder. Der Vater kämpft als polnischer Soldat. In ihrer Verzweiflung begeht die Mutter Selbstmord. Wie durch ein Wunder überleben ihre Jüngsten, die Zwillinge Adam und Ida. Ihre ältere Schwester ist bis heute verschollen.
Ida wird abends aus dem Getto herausgeschmuggelt und bei einer katholischen Pflegefamilie versteckt. „Ich bekam so viel Liebe wie nie mehr danach in meinem ganzen Leben“, sagt Ida. Nach dem Krieg kehrt ihr Vater zurück, für das Mädchen ein Fremder. „Ich wollte nicht zu ihm, zerkratzte ihm das Gesicht“, so Ida. Es dauert Jahre, bis sie akzeptiert, dass sie Jüdin ist. Als junge Frau setzt sie sich ein Ziel: Sie will ihren Zwilling finden. „Ich habe immer gefühlt, dass da jemand neben mir fehlt.“ Ida und ihr Vater emigrieren nach Israel. Sie sucht weiter nach ihrem Bruder, auch als sie längst eine Familie gegründet hat und in den USA lebt. Was sie nicht weiß: Adam wurde von den Nazis ins KZ Majdanek verschleppt. Die Befreiung 1944 ist seine früheste detaillierte Erinnerung. Die Russen finden ihn halb tot in der Latrine, mit Kopfwunden. Er wird von einer polnischen Familie adoptiert, katholisch erzogen und schlechter behandelt als die leiblichen Kinder: „Ich musste immer putzen, arbeiten und war an allem schuld“, erinnert sich Adam.
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Ausreißer sucht Mutter
Als die anderen Kinder sehen, dass er beschnitten ist, nennen sie ihn Jude. Von da an plagt Adam die Frage nach seiner Herkunft: „Ich wusste nur, dass ich jüdisch war.“ Als Kind reißt Adam immer wieder aus, versteckt sich in Zügen, fragt Fremde, ob sie etwas über seine Familie wüssten, doch seinen wahren Namen kennt er nicht. Bald ist er in Polen als „Der Ausreißer“ bekannt. Als junger Mann heuert er bei der Marine an, sucht in anderen Ländern weiter. Schließlich gründet er in Polen eine Familie. Trotzdem lässt ihn die Frage nach seinen Wurzeln nie los. Es ist, als hätte er zwei Seelen. Bis zu jenem schicksalhaften Anruf.
Auch Ida hat die Suche nach ihrem Bruder nie aufgegeben. In der Zeitung „Jewish Ledger“ liest sie von einem polnischen Juden Mitte 50, der seine Mutter sucht. Sie sieht die Familienähnlichkeit und ruft ihn im Januar 1995 an. Bei ihrem ersten Telefonat gleichen sie Daten und Erinnerungsfetzen ab. Sie sprechen drei Stunden. Jedes Wort bringt sie der Wahrheit näher: Die Zwillinge aus dem Getto von Sosnowiec haben sich wiedergefunden, nach 53 Jahren, über den Atlantik hinweg. Sie telefonieren anfangs einmal pro Woche, dann zweimal, dann viermal. Ihr erstes Wiedersehen in Polen wird von der Presse begleitet – und bewegt Menschen in aller Welt. „Ich dachte: Ist das ein Traum?“, sagt Ida. „Es war, als würde ich einen Geist sehen.“
Ein Happy End – aber nicht für alle
Es bedurfte behutsamer Annäherung, bis sich Adam und Ida einem deutschen TV-Team öffneten. „Sie waren interessiert, aber skeptisch, besonders Ida“, sagt Autor Tenhaven. Schließlich lernte er beide in Chicago kennen – zwei sehr unterschiedliche Holocaustopfer. Den bescheidenen, ruhigen, freundlichen Adam. Die impulsive, vorsichtige, zuweilen misstrauische Ida. „Die Verletzungen ihrer Kindheit sind Teil ihrer Persönlichkeit geworden“, so Tenhaven. Ihre Schilderungen, aufgenommen in einem Loft in einem Vorort von Chicago, ziehen einen in den Bann. Durch private Fotos, eindrucksvolle Animationen und Geräusche wie Hundegebell oder Stiefelschritte wird die Kindheit lebendig. „Wenn ich Menschen in hohen Stiefeln sehe, werde ich unruhig, habe Albträume“, sagt Adam. Das Wiedersehen verändert beider Leben. Doch, auch das gehört zur Wahrheit, das Happy End bringt nicht allen Glück. Adam verlässt seine polnische Familie, zieht nach Chicago, heiratet wieder. Er geht einmal pro Woche mit Ida tanzen, sie reden viel, streiten ab und an.
Der Film ist auch sein Vermächtnis: Adam Paluch starb im März 2022, im Alter von 82 Jahren. Das Trauma ihrer Kindheit hat die Zwillinge nie losgelassen. „Ihre Geschichte zeigt, wie stark unsere Sehnsucht nach Zugehörigkeit ist, nach einer Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘“, erklärt Regisseur Tenhaven. Die Geschwister erzählten ihm von Ängsten, ihrer Verlorenheit und ihrer inneren Zerrissenheit. „Krieg und Terror hinterlassen Narben, die sich vorher niemand ausmalt“, sagt Jan Tenhaven auch mit Blick auf die Gräuel in der Ukraine. „Die Wunden, die der Krieg dort heute aufreißt, werden noch Generationen danach belasten.“